17 September 2020
Vor einiger Zeit bat mich ein Vorstand, ihm und seiner Mannschaft im KLV-Format („Kinder, Laien und Vorstände“) zu erklären, wie Strategie praktisch geht:
„Mir ist das zu viel Trockenschwimmen hier. Tausend Ideen, tausend Pläne, aber nichts wird wirklich umgesetzt! Können Sie uns das mal erklären?“
„Tausend“ und „nichts“ war natürlich heillos übertrieben, doch die Organisation blieb tatsächlich hinter den berechtigten Ansprüchen des CEO, ihren eigenen Ansprüchen und vor allem denen der Kunden deutlich zurück. Mit anderen Worten: Ideen bezüglich der Strategie gab es viele und unter ihnen auch einige gute, doch vollständig umgesetzt wurden eindeutig zu wenige. Die Ursache dafür ist nach meiner Erfahrung meist nicht mangelhafte oder gar schlechte Arbeit, sondern das fehlende Verständnis dafür, dass Strategie etwas Hochemotionales ist und dass Menschen ohne Emotionen niemals für eine Sache brennen und alles dafür geben werden.
Für meine KLV-Erläuterung griff ich auf eine vierköpfige Familie in Berlin-Wilmersdorf zurück, die in einer typischen Altbauwohnung lebt. Die zwei Kinder Lisa (12) und Ralf (14) gehen zur Schule, Lisa reitet gern, Ralf ist begeisterter Fußballspieler. Margot, ihre Mutter, unterrichtet Deutsch und Englisch an einem Gymnasium, und Fred, der Vater, leitet den Neuwagenverkauf in einem Autohaus. In Prosaform zeichnete ich ein wirklich fühlbares Bild des Status quo, das ich in der Folge weiter ausmalte:
Margot („die heimliche Chefin der Familie“) ist unzufrieden mit der Situation und beruft den Familienrat ein, um drei gemeinsame Ziele ins Auge zu fassen.
Sie möchte
Die anderen drei Familienmitglieder („das Team“) stimmt diesen Zielen uneingeschränkt zu:
„Oh ja! Was Mama vorschlägt, ergibt wirklich großen Sinn, und wir haben Lust darauf, so zu leben, wie sie es vorschlägt!“
Um die drei Ziele, das Wozu, zu erreichen, fokussiert man sich normalerweise sofort auf die Maßnahmen, mit denen sich diese Ziele am schnellsten erreichen lassen. Diese Maßnahmen sind das Wie: „Wie gehen wir vor?“ Die Beteiligten stürzen sich in ein Brainstorming, diskutieren, was sinnvoll erscheint und was nicht, arrangieren die Dinge in einer bestimmten Reihenfolge und kommen mit einem fertigen Plan aus diesem Prozess.
Fred etwa könnte sagen, dass er an einem neuen Arbeitsplatz mehr Geld verdienen kann. Zack, ab in den Plan – passt schließlich zu den Zielgrößen. Margot setzt auf Urlaube, die das Miteinander fördern: Wandern, Kanufahrten mit Übernachtungen und einige andere Vorschläge. Das ist zwar nicht die perfekte Lösung für jeden, scheint jedoch zu den anvisierten Zielen zu passen! Lisa genügt ein gemeinsamer Spieleabend pro Woche. Auch dieser Vorschlag wird in den Plan aufgenommen! Unabhängig vom Grad der Zustimmung passen die Ideen zu den verfolgten Absichten. Klingt alles cool, oder? Eine clevere Anordnung von Maßnahmen für einen Plan, für dessen Umsetzung man jetzt Gas geben kann.
Wenn Sie nun denken „Gute Ansätze, die in die richtige Richtung zu gehen scheinen“, werden Sie sich zwei Wochen später wundern. Kaum ist die Anfangseuphorie verflogen, schwindet das Einverständnis. Margot wundert sich, dass Fred noch keine einzige Bewerbung abgeschickt hat, und Ralf ist sichtbar genervt von dem wöchentlichen Spieleabend. Obwohl alles sauber zu den Zielen passt, steht keines der Familienmitglieder hinter den vereinbarten Aktionen. Der eine macht Vorwürfe, und die andere rechtfertigt sich und umgekehrt. Es kommt zu neuen Absichtserklärungen oder zu „Change Requests“, mit denen der Plan korrigiert wird.
Ähnlich verhält es sich im Organisationsalltag in Linie und Projekt gleichermaßen. Man erreicht ein Ziel zwar auch mit Druck (den ich „Push“ nenne), etwa indem Margot vehement Commitment zu Zielen und Plan einfordert: „Ihr wolltet die Ziele doch auch, und wir haben sie gründlich diskutiert, oder irre ich mich?“ Wieder hagelt es Anklagen und Rechtfertigungen – genauso wie wir es aus unseren Organisationen kennen. Wir geraten auf die „dunkle Seite der Macht“ mit Emotionen, die kein Momentum erzeugen, sondern nur Druck: eine Mischung aus Angst, Verzweiflung, Scham und Schuldgefühlen, die Menschen nicht besser macht, weil sie zur Abwehr oder zum Abtauchen führt.
Sie finden das übertrieben? Nein, dem ist keinesfalls so! Eine gute Umsetzung ist eben keine rationale Sache und keine Frage von Planung und Kontrolle, sondern eine durch und durch emotionale Angelegenheit. Dementsprechend kommt es beim Managen darauf an, abstrakte Zielgrößen – eine Kostenreduktion, einen Kundenzufriedenheitsfaktor oder ein anderes quantifizierbares Ziel – mit einem Sinn, einem emotional packenden Purpose zu unterlegen, damit etwas wirklich gewollt wird. Der Purpose ist das Warum für das Wozu der Ziele.
Des Weiteren muss zwischen die Ziele (das Wozu) und den Plan, also die zielführenden Aktionen (das Wie) ein Was verankert werden, das einen Sog zum Ziel – einen „Pull-Effekt“ – auslöst. Dieses verlockende Was ist ein Zielbild, das man für erstrebenswert hält, weil man glaubt, damit das Ziel (das Wozu) basierend auf dem Purpose (dem Warum) erreichen zu können. Der Zielzustand ist das, was Strategie eigentlich bedeutet – und keinesfalls die Maßnahmen, die zum Zielzustand führen! Strategie ist eine Zustandsbeschreibung, wie es sein wird, wenn man die Ziele erreicht hat. Dass die Strategie im Wie besteht, ist einer der größten Trugschlüsse im Management!
Nachdem Margot verstanden hat, dass sie einerseits einen von allen geteilten Purpose braucht, um sich aus der ätzenden Push-Spirale zu befreien, und andererseits einen Zielzustand, von dem alle nicht nur kognitiv überzeugt sind, sondern von dem sie mit Leidenschaft angezogen werden, kommt die Purpose-Frage auf den Tisch und findet eine Antwort: Alle wollen, dass ihre Familie die glücklichste der Welt ist, dass sie gemeinsam eine tolle Zeit haben und sich gegenseitig auch in schwierigen Phasen unterstützen, sodass niemand jemals das Gefühl hat, allein dazustehen. Der Purpose, und damit der Sinn, ist die einzige Quelle der Willenskraft. Fehlt es daran, gehen uns unterwegs ganz schnell der Mut, das Durchhaltevermögen und die Kraft aus. Daher ist die Frage so wichtig: Warum sollen wir das alles machen?
Was Margot in der Folge unternimmt, ist exakt das, was wir im Management nahezu niemals tun: Sie sorgt nicht nur für den Purpose, sondern ebenso für ein Was, eine Strategie, ein strategisches Zielbild mit einem für das Erreichen der Ziele erstrebenswerten Zielzustand, für den alle Familienmitglieder brennen. Sie hat keine Lust mehr zu „pushen“, sie will keine weiteren Statusmeetings mit den unvermeidbaren Rechtfertigungsarien, sondern dass alle ihren Beitrag leisten, weil sie es gern tun und weil ihnen deshalb Anstrengungen nichts ausmachen.
Gedanklich soll dafür jedes Familienmitglied in eine Zeitmaschine steigen, ein, zwei oder drei Jahre später aussteigen und in einem Aufsatz beschreiben, was sie bzw. er vor seinem inneren Auge sieht: Was ist der Zustand dort in der Zukunft, der dazu geführt hat, dass die drei Ziele von uns gemeinsam erreicht wurden? Also keine Maßnahmen- oder Planungsdiskussionen, keine Wie-Überlegungen, nur Was-Vorstellungen. Die Zielbildstory des Vaters ist fantasievoll, zugleich aber pragmatisch und zielorientiert. Sein Aufsatz liest sich folgendermaßen:
„Wir haben einen eigenen kleinen Familienbetrieb: ein Autohaus mit den Marken Mercedes und Peugeot in dem neuen Industriegebiet, das gerade erschlossen wird. Ich kümmere mich um den Einkauf, den Verkauf und die technischen Dinge, Mama führt mit viel Freude das Personal und kümmert sich um die Administration. Sie ist bei den Angestellten sehr beliebt und sorgt mit uns gemeinsam für ein tolles Betriebsklima, sodass die Leute gern bei uns arbeiten und die Kunden sich wohlfühlen. Lisa und Ralf finden das richtig cool und haben einen Mordsspaß daran, neben der Schule im Betrieb mitzuarbeiten, um später sogar ihre Ausbildung bei uns zu machen. Mit dieser Veränderung können wir uns ein nettes Haus im Grünen leisten, wo wir uns alle richtig wohlfühlen. Die Pferdekoppel ist um die Ecke, und Ralf liebt es, seine Kumpel zum Fußballspielen auf unsere große Wiese einzuladen. Wir verbringen viel mehr Zeit als früher miteinander, und weil uns allen das großen Spaß macht, gehen wir uns nicht auf die Nerven. Stattdessen finden wir super, was wir als Familie auf die Beine stellen.“
„Sehen“ Sie diesen Zielzustand – die Strategie, die Fred sich vor seinem inneren Auge ausgemalt hat? Ob seine Strategie tatsächlich geeignet ist, die drei Ziele zu erreichen, für die alle brennen, muss sich zeigen. Die anderen „Teammitglieder“ bringen eigene Strategien – also Zielbildstorys – ein, die jeder für sich geschrieben hat. Margot schwebt Folgendes vor:
„Wir besitzen ein selbst restauriertes Bauernhaus im Mecklenburgischen mit einer Fotovol¬taikanlage, nutzen Erdwärme und haben einen eige¬nen Brunnen und einen großen Gemüsegarten, den wir nach Bio-Kriterien hegen und pflegen. Als Meister der Selbstversorgung führen wir mit extrem niedrigen Kosten ein tolles Leben auf einem herrlichen Grundstück mit viel Platz für unsere Wünsche: Reiten und ein Pferd für Lisa, Fred und Ralf angeln im nahe gelegenen See, und wir alle genießen die Natur auf einzigartige Weise. Papa berät Autohäuser und erstellt die Marketingkonzepte dafür zu Hause, sodass er nicht ständig unterwegs ist. Ich biete übers Internet Nachhilfe für Schüler und Konversationskurse in Business-Eng¬lisch für Erwachsene an. Eine gute Verkehrsanbindung sorgt dafür, dass die Kinder eine vernünftige Schule besuchen können. Wir sind unabhängig, haben viel geringere Lebenshaltungskosten und genug Geld für schöne Reisen und viel Zeit füreinander.“
Auch bei Margots Idee finden wir ein klares Was, eine Strategie und nicht bloß eine Beschreibung des Wie – der Art und Weise, wie man dorthin kommt. Das Wie ist erst der nächste Schritt.
Beim Teilen der Aufsätze, bei dem jeder die Chance hat, die Zielbilder der anderen zu lesen und sich intensiv auszumalen, wird mit Feuereifer über die Bauernhaus-Strategie diskutiert. Von diesem wunderbaren Zielbild springt der Funke auf alle über. Das wollen alle erleben und aktiv wahrmachen. Dass die Familienmitglieder ausformulierte Aufsätze in Prosa geschrieben und nicht einfach Tabellen oder elegante PowerPoint-Präsentationen erstellt haben, hat seinen berechtigten Grund: Was wir schreiben, müssen wir wirklich durchdenken und uns bildhaft vorstellen. Aufsätze lassen uns erheblich präziser sein als Zahlen oder Schaubilder.
Erst wenn das Zielbild steht und verinnerlicht ist, startet der Umsetzungsprozess anhand der Fragen: Was ist das „Magische“, das diese Anziehungskraft entfaltet? Gibt es eine bestimmte Vorgehensweise, mit der man diesen Zustand herbeiführen kann? Oder Dinge, die man besser lassen sollte, da sie ihn verhindern? Sowohl das eine als auch das andere ist der Fall! Diese Anziehungskraft speist sich aus zwei Quellen: Purpose und Zielvorstellung.
Zufriedenheit, Stolz und Begeisterung statt Abstraktion
Übertragen aufs Management bedeutet die angestrebte Zielbildvorstellung niemals abstrakten Unsinn wie etwa: „Nach dem Projekt haben wir eine echte Customer Centricity, mit der wir durch innovative neue Kundenservices den Kunden überzeugen.“ Nein, die Zielbildvorstellung sind konkrete Vorstellungen in Form von Geschichten und Erzählungen, die im Team ein klares Bild davon erzeugen, in welchen positiven Phänomenen sich das Ergebnis manifestiert und welche Emotionen (Zufriedenheit, Stolz, Begeisterung) es bei den Beteiligten, in der Organisation und bei der Zielgruppe des Projekts auslöst.
Das Ganze ist emotional aufgeladen und äußert sich in Bekundungen wie: „Es erfüllt uns mit Stolz, wenn uns ein Kunde erzählt: ‚Wahnsinn, wie sich das bei Ihnen gewandelt hat: Zum wiederholten Male hat mich Ihr Service überrascht, als er mir letzte Woche anbot, mein Auto während der Urlaubszeit bei uns abzuholen, die notwendigen Arbeiten zu erledigen und es dann wieder bei uns in der Garage abzustellen.‘“
Wenn Sie Strategie so verstehen und in dieser Weise in Angriff nehmen, können Sie sicher sein, dass die Menschen um Sie herum von sich aus zum Ziel streben, ohne dass Sie jedem (nicht zuletzt auch sich selbst) jeden Tag aufs Neue Beine machen müssen. Mit dem Sog des emotionalen Zielbildes kommt der Pull, und das alle erschöpfende Push-Management hat endlich ein Ende.
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